Eine Gruppe organisieren, Menschen zusammen halten, optimale Zusammenarbeit erreichen – all das ist gar nicht so einfach. Vor allem auch, weil wir in unserem Engagement oft vergessen, dass das Soziale, die Struktur, die internen Beziehungen wichtig sind. Schließlich wollen wir konkrete politische Erfolge erzielen und wenden dafür den Großteil unserer gemeinsamen Energie auf. Damit eine Initiative langfristig funktionieren kann, ist es aber essentiell, dass wir uns auch darüber Gedanken machen, wie wir in ihr zusammenarbeiten. In diesem Artikel wollen wir dir dabei helfen! Ein kurzes Video zum Thema findest du auf unserem Youtube-Kanal.
Im Handbuch Organisiert Euch! von Urban Equipe und dem Kollektiv Raumstation haben über 30 Personen auf 350 Seiten Tipps und Tricks aus ihrer Erfahrung im Organisieren von Gruppen und politischen Initiativen gesammelt. Die Punkte in diesem Artikel sind aus dem Handbuch übernommen. Wenn du mehr wissen willst, kannst du auf deren Website kostenfrei auf das Handbuch und weitere nützliche Tools zugreifen!
Wer seid ihr?
Vielleicht seid ihr schon länger in einer Gruppe gemeinsam aktiv, habt bis jetzt einfach drauf los gearbeitet und macht euch jetzt zum ersten Mal darüber Gedanken, wie ihr euch als Gruppe organisieren wollt? Vielleicht bist du auch gerade dabei, eine neue Initiative zu gründen? In jedem Fall kann es euch helfen, über euer gemeinsames Selbstverständnis nachzudenken. Was wollt ihr erreichen? Für welche übergeordnete Vision wollt ihr euch einsetzen? Wie soll das Wien ausschauen, das ihr (mit)gestalten wollt? Aus eurer großen Vision könnt ihr dann Ziele ableiten, die ihr als Organisation oder Gruppe erreichen wollt. Damit schafft ihr euch selbst eine Basis, anhand derer ihr Entscheidungen treffen könnt, und vermeidet, dass verschiedene Mitglieder eurer Initiative unterschiedliche Ziele verfolgen.
Struktur, Struktur, Struktur!
Über Struktur und Gruppenorganisation machen sich viele Initiativen erst mal gar keine Gedanken. In kleinen, eingespielten Gruppen ist das auch nicht so wichtig. Aber es gilt: auch keine Struktur ist eine Struktur! Wenn ihr euch keine fixen Regeln gebt, wie ihr Entscheidungen treffen wollt, wie ihr Abläufe gestaltet, wann und wie oft ihr euch treffen wollt, stellen sich bald informelle Regeln ein. Die können zwar funktionieren, können aber auch dazu führen, dass einzelne Personen sich ausgeschlossen fühlen oder neue Menschen schwer bei euch Fuß fassen können. Gerade wenn es wichtige Entscheidungen zu treffen gilt, lohnt es sich, wenn ihr euch im Vorhinein überlegt habt, wie ihr diese treffen und legitimieren wollt.
Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie ihr euch als Gruppe organisieren könnt: Als Verein müsst ihr euch an gewisse gesetzlich vorgegebene Strukturen halten. Ihr könnt euch auch völlig frei organisieren. Was sich beispielsweise erwiesen hat, ist die Strukturierung in verschiedene Arbeitskreise, die sich mit unterschiedlichen Themen beschäftigen. Gerade wenn eure Initiative aus vielen Personen besteht, sind Ressourcen oft am besten genutzt, wenn alle das machen, was sie am besten können oder ihnen am meisten Spaß macht. Menschen, die gerne Aktionen planen, wollen vielleicht nicht unbedingt Pressearbeit machen und umgekehrt. Wenn ihr für diese Aufgaben zwei Teams bildet, können die aktionsplanenden Menschen sich ganz auf ihr Gebiet fokussieren, ohne sich gleichzeitig auch um Pressearbeit kümmern zu müssen.
Wie fallen Entscheidungen?
Entscheidungen trefft ihr am besten in eigens dazu vorgesehenen Treffen, die ihr im Vorhinein ausschreibt, zum Beispiel in einem Plenum, bei dem alle Arbeitskreise zusammenkommen. Davor solltet ihr euch überlegen, welche Entscheidungen ihr vielleicht gar nicht im Plenum entscheiden müsst, sondern einzelnen Teams oder Personen überlassen könnt. Ihr könnt dabei nach bestimmten Mehrheiten entscheiden oder Konsens ausdiskutieren. Dabei sucht ihr so lange nach Lösungsmöglichkeiten, bis alle eurer Mitglieder mit einer Entscheidung mitgehen können. Das ist die demokratischste Entscheidungsvariante, ist aber auch sehr Zeit-intensiv und bietet sich daher speziell für große, richtungsweisende Entscheidungen an. Eine vereinfachte Version ist die soziokratische Entscheidung nach Konsent (anderer Buchstabe, großer Unterschied zu Konsens!) Dabei entscheidet ihr nicht einstimmig, sondern wählt den Weg, der am wenigsten auf Widerstand stößt. Hier findet ihr mehr Info zum Soziokratie-Prinzip.
Schließlich ist es wichtig, dass ihr eure Struktur auch wo festhaltet, beispielsweise in einem Organigramm. So können auch neue Menschen schnell verstehen, wie ihr organisiert seid. Ein Beispiel ist dieses soziokartische Arbeitsgruppenmodell eines Bildungsinstituts:
Trefft euch!
Um gemeinsam Entscheidungen zu treffen, alle Mitglieder up to date zu halten, euch gegenseitig zu motivieren und effektiv zusammenzuarbeiten, sind gemeinsame Treffen wichtig. Auch wenn es oftmals verlockend ist und unkomplizierter wirkt, sich online zu treffen, haben physische Treffen dabei gerade für den Zusammenhalt in eurer Gruppe eine besondere Bedeutung.
Sobald ihr mehr als eine Hand voll Personen seid, ist es außerdem wichtig, Treffen zu strukturieren. Bereitet euch auf das Treffen vor, in dem ihr Ziele und Agendapunkte festlegt, über die ihr dann sprechen wollt. Legt fest, wer das Treffen moderiert und wer Protokoll führt, also die Ergebnisse eurer Gespräche festhält. So geht ihr sicher, dass ihr nichts wichtiges vergesst, dass alle gehört werden und ihr nach dem Treffen auch wo nachsehen könnt, falls ihr vergessen habt, was entschieden wurde, oder falls einzelne Personen nicht dabei sein konnten. Legt eine Zeit fest, zu der möglichst viele von euch können, und kümmert euch um einen Ort, an dem ihr euch in Ruhe besprechen könnt.
Außerdem ist es hilfreich, über Gesprächsregeln nachzudenken. Wenn ihr eine kleine Gruppe seid und euch alle bereits gut kennt, ist das vielleicht nicht notwendig. In größeren Gruppen kann das aber notwendig sein, damit ihr nicht alle durcheinander redet und auch stillere Personen zu Wort kommen. Ihr könnt euch zum Beispiel Handzeichen überlegen, mit denen ihr euch meldet. Ihr könnt dabei auch gleich die Reihenfolge festlegen, in der ihr reden werden, indem die erste Person mit einem Finger aufzeigt, die zweite mit zwei Fingern und so weiter. Eine Moderation kann euch außerdem helfen, fokussiert zu bleiben und über alle Themen zu sprechen, die ihr euch vorgenommen habt.
Damit ihr nicht einfach nur redet, sondern auch ins Tun kommt, ist es hilfreich, am Ende eines jeden Treffens eine Liste mit offenen To-Do’s zu machen und jedes davon gleich einer bestimmten Person zuzuordnen. Und vereinbart am Ende eines Treffens gleich den nächsten Termin!
Gebt euch Raum!
Wenn ihr alle im selben Bezirk lebt und eine kleine Gruppe seid, könnt ihr euch vielleicht bei einer:einem von euch zu Hause treffen. Im Sommer bieten sich öffentliche Parks gut als Besprechungsort an. Grundsätzlich kann es aber praktisch sein, wenn ihr einen Raum oder möglicherweise eine Liste von Räumen habt, an denen ihr euch für Besprechungen treffen könnt, wo ihr coworken und Equipment lagern könnt.
Ihr könnt euch einen Raum mieten. Das ist vor allem praktisch, wenn ihr nach einem Ort sucht, auf den ihr jederzeit zugreifen könnt. Schaut euch dabei nach leerstehenden, zwischengenutzten Gebäuden oder Social Work Hubs um! Wenn ihr nur für einzelne Treffen einen Raum benötigt, könnt ihr auch auf Gratis-Angebote von Organisationen oder Institutionen zurückgreifen, euch in Nachbarschaftsräumen oder Community-Projektstätten treffen. Hier findet ihr Tipps für eure Raumsuche.
Mit Hierarchien umgehen
Hierarchien entstehen mit der Zeit immer in sozialen Gruppierungen. Sie können von eurer Organisation gewollt sein, zum Beispiel, wenn ihr einen Vereinsvorsitz oder Projektleiter:innen habt. Sie können aber auch unbewusst durch Wissenskonzentration bei einzelnen entstehen oder dadurch, dass Menschen, die in eurer Gruppe sehr aktiv sind, eben auch mehr Entscheidungen treffen. Daran ist grundsätzlich einmal nichts falsch. Wenn Hierarchien nicht angesprochen werden oder Menschen sich ausgeschlossen und übergangen fühlen, kann das aber zu schlechter Stimmung führen und eure Gruppe schwächen. Eine festgelegte Struktur kann euch helfen, Entscheidungen zu legitimieren und in einem Rahmen zu treffen, der alle miteinbezieht.
Auch Transparenz ist hierbei ganz besonders wichtig. Wenn sich Informationen, Kontakte und Pläne bei einzelnen Menschen konzentrieren, werden diese schnell überlastet und andere fühlen sich ausgeschlossen. Eine gemeinsame Datenbank und Protokolle können euch helfen, alle optimal miteinzubinden. Außerdem kann es nicht schaden, euch auch mal abzuwechseln und Aufgabenbereiche zu tauschen. So verhindert ihr, dass wichtige To-Do’s immer an derselben Person hängen bleiben und verteilt euer Know-How in der Bewegung.
Neue Menschen?
Erfahrungen vieler Organisationen zeigen, dass die meisten Menschen nach drei Jahren ehrenamtlichen Engagements ihre Energie zurückschrauben müssen. Viele Menschen hören dann damit auf und widmen sich wieder Lohnarbeit und Freizeit, andere bleiben aktiv, haben aber weniger Energie zur Verfügung als früher. Um zu verhindern, dass sich eure Organisation nach einer Zeit einfach wieder auflöst, habt ihr zwei Möglichkeiten. Ihr könnt euch dafür entscheiden, mit Fördergeldern oder Spenden einzelne besonders aktive Mitglieder zu bezahlen, damit diese auf einen Vollzeitjob neben dem Aktivismus verzichten können. In vielen Fällen wird das aber nicht möglich sein.
Deshalb ist es wichtig, offen für neue Menschen zu sein. Ihr könnt aktiv nach neuen Menschen suchen, indem ihr auf euren Social Media Kanälen zum Mitmachen aufruft oder auf Aktionen, Bezirksfesten oder Konferenzen auf Menschen zugeht. Wenn ihr viele interessierte Neulinge habt, könnt ihr auch eigene “Onboarding”-Treffen ausschreiben, um Personen in eure Organisation einzuführen.
Wenn ihr gerade keine akute Hilfe benötigt, kann es trotzdem sinnvoll sein, eure Strukturen so zu gestalten, dass Interessierte jederzeit mitmachen können. Was euch dabei hilft?
- Legt eine gemeinsame Daten- und Kontaktsammlung an. Ihr könnt zum Beispiel Dokumente auf einem gemeinsamen Drive speichern oder ihr legt euch ein Gruppen-internes Wiki an. So können neue Menschen leichter auf euer gesammeltes Know-How zugreifen und Aufgaben übernehmen.
- Seid transparent! Ein verschriftlichtes Selbstverständnis, Organigramme über eure Struktur, klar ersichtlich ausgeschriebene Treffen und Protokolle machen es neuen Menschen leichter, sich in eurer Organisation zurechtzufinden.
- Schlussendlich spielt auch das Soziale eine Rolle. Neue Menschen leben sich am schnellsten in eurer Gruppe ein und bleiben auch am ehesten dabei, wenn sie ihre Mitstreiter:innen persönlich kennenlernen. Außerdem gibt es auch alten Hasen neue Motivation, hin und wieder was miteinander zu unternehmen.
Schafft Netzwerke!
Im Aktivismus muss nichts neu erfunden werden! Viele Informationen, Kompetenzen und Kontakte existieren bereits! Daher kann es euch helfen, euch mit anderen Gruppen und Initiativen zusammenzuschließen und auszutauschen. Ihr sucht einen Kontakt zur Bezirksverwaltung? Vielleicht hat eine andere Initiative schon Kontakt aufgebaut! Ihr möchtet eine große Aktion organisieren? Vielleicht könnt ihr euch Know-How bei Menschen besorgen, die das schon öfters gemacht haben. Ihr könnt euch auch gegenseitig Reichweite verschaffen, gemeinsame Demonstrationen organisieren oder zusammen eine Kampagne planen.
Allerdings ist Vernetzungsarbeit oft vor allem eines: Arbeit! Und neben all dem, was sonst so zu tun ist, wird Netzwerken oft als hinterste Priorität angesehen. Oder bereits bestehende Netzwerke lösen sich wieder auf, weil niemand die notwendigen Ressourcen hineinsteckt, um sie aufrechtzuerhalten. Hier kommt Wir Machen Wien ins Spiel. Als Plattform sind wir genau dafür da, dass ihr euch untereinander vernetzen und gegenseitig helfen könnt. Du willst auch dabei sein? So einfach geht’s!
Begrifflicher Exkurs zu Organizing
Der US-amerikanische politikwissenschaftliche Begriff des “Organizings” bzw. eingedeutscht “Organisierung” hat eine spezifische Bedeutung, die sich vom hier beschriebenen Tun des Organisierens unterscheidet. Er bezeichnet “einen Ansatz linker Politik, der auf eine Vergrößerung und Ermächtigung der Basis sozialer Bewegungen und progressiver Organisationen, vor allem Gewerkschaften, abzielt. Damit soll eine größere Verankerung linker Politik in der Gesellschaft, vor allem in der Arbeiterklasse, erreicht werden, die zu einer Demokratisierung sowohl progressiver Organisationen als auch der Gesellschaft als ganzes führen soll. Dies soll durch „Organisierung“ passieren: Mehr Menschen sollen für progressive Organisationen gewonnen werden,” [1]
Im deutschsprachigen Raum verbreitete sich der Begriff vor allem in der Gewerkschaftsbewegung, da er auch historisch aus der klassischen amerikanischen Arbeiterbewegung und deren europäischer Vorgeschichte hervorgegangen ist. Er ist aber auf viele Bereiche des gesellschaftlichen „Engagements von unten“ anwendbar. In Wien bezieht sich das “Bureau für Selbstorganisierung” auf diesen Begriff und bietet mittels kostengünstigen Webinaren u.ä. Unterstützung für die Planung und Umsetzung von selbstorganisierten Projekten und Kampagnen.
Auch wir hier bei “Wir machen Wien” betreiben eine Spielart des Organizings für unsere gemeinsamen Ziele der Partizipation im Zeichen von öffentlichem Raum und Klimabewegung, indem wir Wissen zur Verfügung stellen, Vernetzung betreiben und eine Vergrößerung und Ermächtigung der Initiativenlandschaft in Wien erreichen wollen. Gemeinsam mit euch. Also: Let’s organize!
Inspiration und Informationsquelle für diesen Artikel war das Handbuch Organisiert euch! von Urban Equipe und dem Kollektiv Raumstation! Hier findet ihr noch sehr viel mehr Tipps, Tricks und Tools, wie ihr euch als Gruppe organisieren könnt! Das “Handbuch Selbstorganisation” von Elisabeth Hanzl und Andreas Maier widmet sich auch diesem Thema und ist hier kostenlos downloadbar.