Defizite der Partizipation in 50 Jahren Wiener Beteiligungspolitik

Als vor einem halben Jahrhundert die ersten Beteiligungsformate der Wiener Stadtpolitik das Licht des Rathauses erblickten, trat ein Bürgermeister zurück. Diese überraschende Lektion lernen wir in der im April 2024 erschienenen Studie „Mehr Zusammenbringen“, die von der Arbeiterkammer Wien beauftragt und von Partizipations-Stadtrat Jürgen Czernohorszky (SP) zum Auftakt des Prozesses der Demokratiestrategie für Wien herangezogen wurde. Die renommierten Studienautorinnen Tamara Ehs und Martina Zandonella gingen der Frage nach, wie politische Partizipationsangebote in Wien gestaltet sein müssen, damit sie von möglichst vielen Menschen unterschiedlichsten Hintergrundes genutzt werden und kaum beteiligte Bevölkerungsgruppen erreichen. Herkunft, Sprache, Bildung, wirtschaftlicher Status und das Staatsbürgerschaftsrecht halten viele davon fern, wie in der Studie detailliert analysiert wird.

Wenn der Studie die Überzeugung zugrunde liegt, aktive Beteiligung der Bürger:innen sei das Lebenselixier jeder funktionierenden Demokratie und quantitativ höhere Beteiligung gehe mit einer qualitativ besseren Demokratie einher (S.6), dann müssen wir im WirMachenWien Kontext zusätzlich das Augenmerk darauf legen, ob Beteiligung reale politische Resultate erzielt. Auch dazu bietet die Studie Erkenntnisse – aber davor ein Blick zurück in die Siebzigerjahre.

Wiener Bürgermeister tritt wegen Bürger:inneninitiative zurück

Die Bürger:inneninitiative gegen die Verbauung des Sternwarteparks sammelte im Mai 1973 rund 16.000 Unterschriften, erhielt Unterstützung von ÖVP, prominenten Schauspielern wie Otto Schenk und von Boulevardzeitungen. Wiens SP-Bürgermeister Felix Slavik, der die Verbauung befürwortete, setzte daraufhin auf direkte Demokratie. Die Volksbefragung brachte jedoch 57,4 % Gegenstimmen, woraufhin Slavik zurücktrat und sein Nachfolger Leopold Gratz erstmals einen Abschnitt zur kommunalen Demokratiepolitik bei den vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 1973 ins Wahlprogramm übernahm.

Der zurückgetretene Bürgermeister Slavik

Im selben Jahr ist laut der Studie der Beginn der Planungsdemokratisierung zu verorten. Zur Wiener Stadtentwicklungsenquête waren alle Wiener:innen eingeladen, 1.300 Bürger:innen nahmen teil. Schon damals sprachen Medien allerdings von „Scheinpartizipation“, die ersten Schritte weg vom bekannten Top-Down-Ansatz der Stadtplanung waren aber gesetzt. In der Studie von Ehs/Zandonella lernen wir, dass diese Idee des Democratic Planning bereits in den 1940er Jahren vom US-amerikanischen Architekten Albert Charles Schweizer entwickelt wurde. „Planning is not only for the people, it should also be of the people and by the people.“ (Schweizer 1949)

Von den Neunzigern in die Zwanzigerjahre

Im Jahr 1991 setzte dann der Wiener Gemeinderat das Forum Stadtverfassung ein, um eine Reform der Bürgerbeteiligungsrechte zu diskutieren. Neben zunehmenden Bürgerinitiativen und Zuspruch zu Grünen und FPÖ, u.a. wegen ihres Eintretens für direktdemokratische Instrumente, waren die nahenden Gemeinderatswahlen im Herbst 1991 der Auslöser für die SPÖ, dieses Forum einzuberufen. Sämtliche damals in der Stadt tätigen Bürger:innen-Initiativen waren zu Reformvorschlägen eingeladen, sich mit Verbesserungsvorschlägen an die Kommission zu wenden. Auch auf die sich weitende sozio-ökonomische Beteiligungskluft wurde dabei bereits hingewiesen.

Diese Schilderung erinnert stark an aktuelle Prozesse zur Verbesserung von Beteiligung, in die auch die hier behandelte Studie einfließt. Im Juni 2023 wurde die Demokratieenquête zur Frage „Wie gestalten wir die Zukunft der Wiener Demokratie gemeinsam?“ von Stadtrat Jürgen Czernohorszky veranstaltet, der wenig später die Etablierung eines „Demokratiehubs“ mit Gemeinderatsbeschluss herbeiführt, die Bewerbung zum „European Capital of Democracy“ zum Erfolg führte, im Mai 2024 mit der partizipativen Entwicklung einer Demokratiestrategie für Wien begann und das „Demokratiejahr“ im Herbst 2024 ausrufen wird, das parallel zum Wiener Wahlkampf 2025 läuft.

Die deliberative Welle erreicht die Donau

Die im Forum Stadtverfassung 1991 erarbeiteten Vorschläge erfuhren laut Studie jedoch keine unmittelbare Umsetzung. Reformschritte erfolgten erst im neuen Jahrtausend, als die Welle deliberativer Demokratie auch die Stadt Wien erfasste. Aber dazu halten die Studienautorinnen fest, „dass dabei kaum die Beteiligungsrechte, aber in beträchtlichem Umfang die Beteiligungsangebote erweitert wurden“ (S.21). Damit gemeint sind zahlreiche neue Möglichkeiten wie die Lokale Agenda. Diesen Beteiligungsmöglichkeiten fehlt laut Studie „zwar die politische Wirksamkeit, die allen voran Wahlen und in Wien traditionell auch Volksbefragungen zukommt, sie stellen aber ein Angebot für die wachsende Zahl von Nichtwahlberechtigten dar.“ Die Welle lud also zum Schwimmen ein, Land kam nicht in Sicht.

Die Frage der Wirksamkeit bleibt offen

Dieser Trend mündete schließlich in der Schaffung von Petitionsgesetz, Beteiligungsplattformen, Bezirksbudgets, Klimateam, Grätzlmarie, Grätzloasen und Bürger:innen-Räten in unserem Jahrzehnt. Wir Wiener:innen finden also ein breites Beschäftigungsangebot an Beteiligungsformaten vor, das wir je nach Zeitbudget, Motivation, Staatszugehörigkeit und sozio-ökonomischen Lebensumständen nutzen können (Abbildung aus der Studie)

Beteiligung

Erfahrungen von politischer Wirkungslosigkeit, vor allem wenn sie wiederholt oder stetig gemacht werden, halten von Beteiligung ab, stellen die Studienautor:innen fest (S.18). Im Zentrum der Analyse von politisch wirksamer Beteiligung stehe die Outputdimension: „Sie misst die Durchsetzungsfähigkeit des Beteiligungsinstruments in Hinblick auf die Gestaltung von Strukturen, Prozessen oder Inhalten der Politik. Der Schwerpunkt der Demokratiereformen der vergangenen Jahrzehnte lag wiederum auf der Prozessdimension: Im Zuge der Erweiterung des Beteiligungskatalogs wurden allen voran deliberative Verfahren etabliert, welche die informierte politische Meinungsbildung fördern, ohne jedoch rechtliche Verbindlichkeit herzustellen.“

Wissenschaftlich gesagt, lassen also sowohl Effektivitätsdimension (Auswirkungen des Beteiligungsprozesses auf die Politikumsetzung) und die Zufriedenheitsdimension (subjektive politische Wirksamkeit) in Wien sehr zu wünschen übrig. Das bestätigen langjährige Erfahrungen im WirMachenWien Kreis – der Output von Partizipation ist nicht ausreichend. Kernidee der deliberativen Demokratie ist aber, dass der Austausch von Argumenten in einem gleichberechtigten Diskurs stattfindet. Davon sind wir noch weit entfernt.

Vernichtendes Urteil zum Petitionsrecht

Zur politischen Wirksamkeit von Petitionen zitieren wir hier zwei Absätze der Studie (S.34). „Das Petitionsrecht zeichnet sich durch eine hohe Zugänglichkeit aus, zumal es auch von Wiener:innen ohne österreichische Staatsbürgerschaft genutzt werden kann. Allerdings ist die politische Wirksamkeit gering, denn der Petitionsausschuss ist kein Entscheidungs-, sondern ein konsultatives Gremium. Seine Empfehlungen entfalten bestenfalls politische, aber keine rechtliche Verbindlichkeit. Der Abschluss der Behandlung einer Petition wird einseitig durch den Petitionsausschuss ohne Mitbestimmung der Petitionseinbringer:innen begründet und vollzogen. Im Vordergrund stehen in der Praxis die Möglichkeit für Bürger:innen, ihren Willen auszudrücken, demnach die (potentielle) Beteiligung an der städtischen politischen Willensbildung, sowie die Verhandlung von Interessen. Somit hat das Verfassen und Unterzeichnen von Petitionen viel eher Willensausdrucksfunktion als direkte politische Wirksamkeit.“

Die Initiative “Platz für Wien” feierte 2020 ihre 20.000 Petitions-Unterschriften vor dem Rathaus. 57.000 sollten es gesamt werden, ohne signifikantes Ergebnis im Petitionsausschuss.

Dabei „besteht laut Demokratiezentrum eine gewisse Tendenz, bisheriges Regierungshandeln zu bestätigen. Die untersuchten Stellungnahmen scheinen oftmals dazu zu dienen, das bisherige politische und administrative Vorgehen mittels der Erläuterung juristischer und administrativer Rahmenbedingungen, der generellen Komplexität der Materie, bereits durchgeführter Bürger:innenbeteiligungsmaßnahmen sowie politischer Imperative zu legitimieren. Auf diesem Weg wird oftmals gezeigt, inwiefern die Forderungen der Petition nicht umsetzbar sind oder aus Sicht des Petitionsausschusses und städtischer Expert:innen bereits im Wesentlichen angemessen berücksichtigt wurden.“ Das kann die bisher größte Petition „Platz für Wien” trotz 57.000 im Jahr 2020 gesammelter Unterschriften bestätigen. (Hier Analyse nachlesen)

Zuversicht vs. Particitainment

Dieser kritischen Sichtweise widerspricht eine eher positive Einstellung zur Wirksamkeit von Beteiligung, die in dieser Tabelle der Studie dargestellt wird. Immerhin 57% der Befragten im oberen und 47% im mittleren Einkommensdrittel sind zuversichtlich. Dabei wird einerseits die “Dritteldemokratie” bezüglich Klassenzugehörigkeit sichtbar, andererseits ist nicht geklärt ob diese Zuversicht auf realer Erfahrung beruht.

Tabelle

Abschließend hinterlassen die Studienautorinnen einen Katalog rhetorischer Fragen (S.93), den sie auf das „Spannungsfeld von Partizipation versus Befriedung“ beziehen: Ist das Ziel politische Wirkung, demnach eine echte Veränderung in einem bestimmten Politikfeld? Oder möchte man den Bürger:innen mit einem Partizipationsevent eine gute Zeit verschaffen, um möglichen widerständigen Bürger:inneninitiativen frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen? Nimmt man die Teilnehmer:innen ernst, indem man ihnen klar darlegt, was überhaupt rechtlich, finanziell und unter der Ägide der repräsentativen Demokratie realistisch machbar ist oder „infantilisiert man sie mit Wunschzettelveranstaltungen“, wie schon Klaus Selle im Jahr 2013) im Text „Particitainment“ feststellte?

Download der Studie

„Mehr Zusammenbringen“, Tamara Ehs und Martina Zandonella, hg. von Arbeiterkammer Wien (Downloadlink) mit zahlreichen Nachweisen und Analysen der „Zweidritteldemokratie“ in Wien: Das untere ökonomische Drittel nimmt zunehmend von politischer Beteiligung Abstand. Die Nichtwahlberechtigten sind nicht gleichermaßen über Wien verteilt. In Wiens ärmsten Bezirken fällt ihr Anteil wesentlich höher aus, die Teilnahme an Beteiligungsformaten gering.

Tabelle

Die OECD stellte im Jahr 2020 in einer internationalen Studie über 300 Beispiele für Maßnahmen deliberativer Demokratie und Partizipation zusammen. Download hier.

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